Rezensionen

Alban Bergs unvollendete Oper Lulu.

28. Mai 2023, 09:45 Uhr

Vera-Lotte Boecker als Lulu
Wiener Festwochen

Gestern hatte die letzte Oper der Zwischenkriegszeit im Museumsquartier Premiere: Alban Bergs „Lulu“. Das Musiktheater an der Wien und die Wiener Festwochen folgten der Züricher zweiaktigen Version mit Ausschnitten aus der Lulu-Symphonie für das Finale. Unser Opernexperte Richard Schmitz berichtet.

Wedekinds Bühnenfigur Lulu widerspricht jeder Einordnung. Sie ist weder Kindfrau, Hure, Göttin, Vamp oder Ehefrau. Als reiner Triebmensch bleibt sie unschuldig, weil sie gut und böse nicht kennt. Damit entlarvt sie aber auch den gesellschaftlichen Moralkodex als Perversion der natürlichen Moral. Es ist der Regisseurin Marlene Monteiro Fraitas hoch anzurechnen, dass sie nicht versucht, die Ambivalenz der Lulu aufzulösen. Lulu bleibt ein Rätsel, das alle Männer denen sie begegnet, selbst lösen wollen und daran scheitern. Deshalb müssen sie alle sterben. Neben der präzise erzählten Handlung entwickelt die Regie aus der Musik von Alban Berg Bewegungsmuster, die nichts mit dem Ablauf zu tun haben. Ihr Team von Performern schafft damit eine sterile Atmosphäre, die ein Mitleiden mit den einzelnen Gestalten von vorn herein unterbindet.

Das ORF Radio-Symphonieorchester war hoch über der Bühne platziert, was uns in den Genuss eines differenzierten Klangbildes brachte. Maxime Pascal arbeitete alle Feinheiten der Partitur prächtig heraus. Obwohl er mit dem Rücken zu den Sängern dirigierte, kam es zu keinen Verständnisproblemen. Vera-Lotte Boecker sang die Lulu mit einigen bravourösen hohen Tönen, die ich so nicht in Erinnerung hatte.

Bo Skovhus war schon von Anfang an ein psychisch angeschlagener Dr. Schön. Edgaras Montvidas entsprach dem naiven Charakter des Alwa. Cameron Becker überraschte als stimmstarker Maler. Imponierend die Bühnenpersönlichkeit von Kurt Rydl als Schigolch. Athlet und Tierbändiger wurden von Martin Summer mit seiner schönen Stimme ausgestattet. Von der Geschwitz von Anne Sofie von Otter habe ich mir eigentlich mehr erwartet.

Die Einheitsbühne, die Yannick Fouassier gemeinsam mit der Regisseurin geschaffen hatte, bemühte sich gar nicht um Differenzierung der Orte. Das war in dieser Abstraktion auch nicht nötig. Sexuelle Handlungen und blutige Tode blieben uns erspart. Als ich am Ende der Einführung durch den Dramaturgen aufgefordert wurde, „Viel Spaß“ zu haben, schwante mir Schreckliches. Erfreulicherweise erregte dann nur das ungeschickte Sterben des Dr. Schön Heiterkeit.

Es ist ein zwiespältiger Eindruck, der zurückbleibt. Das Streben, Lulus Charakter nicht zu definieren, die mangelnde Erotik und die harmlosen Tode der Männer hat doch viel an Dramatik gekostet. Alban Bergs Meisterwerk mit all seiner Monumentalität kam nicht zur Geltung. Auch Wedekinds Absicht, die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft zu thematisieren, war nicht zu erkennen. Ob nicht die dreiaktige Fassung von Friedrich Cerha den Intentionen des Komponisten besser entsprochen hätte? So ist wahrscheinlich auch zu erklären, dass der eindeutige Jubel des Publikums auffällig kurz war.    

Wertnote: 7,3/10 Punkten

© Richard "Riki" Schmitz