Rezensionen

Boris Godunow am Gürtel.

16. Januar 2022, 09:45 Uhr

Im Dezember des Vorjahres hat Volksopern-Direktor Robert Meyer beschlossen, auf die szenische Realisation des „Boris Godunow von Modest Mussorgsky zu verzichten. Deshalb war die gestrige Premiere rein konzertant. Unser Opernexperte Richard Schmitz war dabei.

Die vorgesehene Wiedergabe der Urfassung enthält keinen Polenakt und keinen Triumph des falschen Dimitri. Zuletzt ist coronabedingt auch die Szene des Gottesnarren ausgefallen, weil der Kinderchor nicht eingesetzt werden konnte. Zu hören waren 105 Minuten intensiver Mussorgsky. Ohne Pause. Gesungen wurde in deutscher Sprache mit Übertiteln. So konnte man dem Geschehen noch konzentrierter folgen. Dirigent Jac van Steen arbeitete die harmonische Originalität der Partitur bestens heraus. Die Glättung durch Nikolai Rimski-Korsakov ist zurecht vergessen. Da hört man, dass Mussorgskys Werk mit Richard Wagners Tristan und Isolde zu vergleichen ist; so kühn und abwechslungsreich ist die Musik.

Die Wiener Volksoper war gestern vom Orchester bis zum letzten Choristen im Frack, die Damen im schwarzen Abendkleid zu bewundern. Bei aller Intensität der Gestaltung hätten Kostüme die unterschiedlichen Funktionen des Chores – Volk, Mönche, Bojaren – doch klarer gemacht. Das traf auch auf die Protagonistinnen und Protagonisten zu. Albert Pesendorfer beeindruckt als Boris mit schöner kerniger Stimme. Makellos als liebender Vater bis zuletzt. Der Umschwung zum Wahnsinn gelingt weniger gut. Der Sieg des schlechten Gewissens erschüttert kaum. Carsten Süss geht das Schmierige des hinterlistigen Schuiskij ab. Herausragend Ghazal Kazemi als Fjodor. Der junge Yasushi Hirano kann das Gebrechliche des alten Mönchs Pimen im Frack wenig glaubhaft machen. Marco di Sapia singt das Trinklied des Warlaam ordentlich. Vincent Schirrmacher kann sich nur in den ersten beiden Bildern als falscher Dimitri beweisen.

Die aufgestellten Mikrofone lassen auf ein interessantes Tondokument hoffen. Liebhaber des Boris Godunow sollten sich die Wiederholungen an der Volksoper nicht entgehen lassen. Wortdeutlich und auf Deutsch wird man das Werk nicht so bald wieder zu hören bekommen. Das coronabedingt ausgedünnte Auditorium war sehr zufrieden.

Wertnote: 7,2/10 Punkten