Rezensionen

Das verratene Meer.

15. Dezember 2020, 08:20 Uhr

Gestern fand die Premiere von Hans Werner Henzes Oper „Das verratene Meer“ in der Wiener Staatsoper statt. Wie heute leider notwendig ohne Publikum. Dennoch konnte man die Aufführung über den Streamingdienst der Staatsoper miterleben. Unser Opernexperte Richard Schmitz ließ sich das nicht entgehen:

„Das verratene Meer“ ist Henzes vorletzte Oper. Sie kam 1990 an der Deutschen Oper Berlin heraus. Der gestrigen Premiere liegt offenbar die Überarbeitung von 2003 zugrunde. Die Dreiecksgeschichte einer japanischen Novelle wurde von Ulrich Treichel in ein Libretto verwandelt. Der Seemann Ryuji Tsukazaki verliebt sich in die Witwe Fusako Kuroda, die seine Liebe erwidert. Noboru, der 13-jährige Sohn der Witwe verehrt anfänglich den Schiffsoffizier, weil er ebenso wie seine gleichaltrigen Freunde an das Meer und das Heldentum der Seefahrt glaubt. Als der Seemann abheuert und in das Geschäft der Witwe, einer Kleiderboutique eintreten will, verliert er den Heldenmythos. Die jugendliche Gang hält Gericht über Tsukazaki und verurteilt ihn zum Tod. Ob die Jugendlichen den letzten Schritt setzen und ihn umbringen, lässt  Henze offen. Ödipale und homoerotische Gefühle und die Verachtung der Bürgerlichkeit bestimmen die Handlung.

Henze schrieb keine exotische Oper, wie die Turandot. Lediglich einzelne fernöstliche Klänge sind aus dem Klangkonglomerat herauszuhören. Den Noboru, der immer mehr in den Mittelpunkt rückt, sang wortdeutlich und intensiv Josh Lovell. 13 Jahre alt ist er aber nicht mehr. Bo Skovhus gestaltete den verliebten Seemann und dann schließlich kleinbürgerlichen Zukasaki in prächtiger stimmlicher Verfassung. Die Mutter war bei Vera-Lotte Boecker in besten Händen; stimmlich die anspruchsvollste Partie. Die Mitglieder der jugendlichen Gang entsprechen ihren Aufgaben. Simone Young dirigierte engagiert und hielt das komplexe Orchester mit vielfach unterteilten Bläsern und einer japanischen Trommel blendend zusammen.

Die Inszenierung von Jossi Wieler und Sergio Morabito ging behutsam vor und brachte die unterschiedlichen Ebenen zur Einheit. Das kühle Bühnenbild und die Kostüme von Anna Viebrock lieferten den modernen Rahmen. Im Streamingbild war es manchmal allzu finster; außerdem überdeckte der eingeblendete Text bei mir über weite Strecken die handelnden Personen.

„Das verratene Meer“ beginnt durchaus realistisch und wird im zweiten Teil zunehmend surrealistischer. Das wird nach Ende der Oper noch gesteigert, wenn der Schlussapplaus inszeniert wird, als gebe es Zuschauer. Das war wahrhaft surreal.

Die Oper könnte, wie etwa Billy Budd, zu einem Zugstück werden. Ich glaube viele werden beeindruckt sein, wenn sie das Werk auf der Bühne erleben können. Es ist schön zu sehen, dass die Oper lebt. Für die Initiative der Wiener Staatsoper muss man dankbar sein.

Wertnote: 8,3/10 Punkten

© Wiener Staatsoper/Michael Pöhn: Vera-Lotte Boecker als Fusako Kuroda, Bo Skovhus als offensiver Ryuji Tsukazaki.