Rezensionen

Der Idiot.

29. April 2023, 08:45 Uhr

Der Idiot: Petr Sokolov (Lebedjew), Dmitry Golovnin (Fürst Myschkin), Dmitry Cheblykov (Rogoschin)
© Monika Rittershaus

Die klingenden Hirnblitze eines Guten 

Das Theater an der Wien feiert einen großen Erfolg mit der österreichischen Erstaufführung von Mieczysław Weinbergs Oper „Der Idiot“. Unter der Leitung von Thomas Sanderling und in der dichten Regie von Vasily Barkhatov gelingt eine rundum ausgezeichnete Produktion. 

Zwei Männer sitzen sich auf dem Weg nach St. Petersburgin einem Zugabteil gegenüber.Die tief verschneite Landschaft zieht in den Waggonfenstern vorbei. Ob er friere, fragt der eine, der reiche Kaufmannssohn Rogoschin, sein schüchtern in sich gekehrtes Gegenüber. Es ist Fürst Myschkin, der von seinem Sanatoriums-Aufenthalt in der Schweiz zurückkehrt. Ob er geheilt werden konnte, fragt ihn Rogoschin. „Nein, antwortet Myschkin, aber es gehe im gut.  

So beginnt Mieczysław Weinbergs letzte Oper „Der Idiot“, nach Fjodor Dostojewskis berühmtem Roman. Die Uraufführung der Originalpartitur erlebte der 1996 verstorbene Komponist nicht mehr. Sie fand 2013 in Mannheim statt. Dirigiert hat damals Thomas Sanderling. Er hat sich um das Werk MieczysławWeinbergs verdient gemacht,das seit der Aufführung von Die Passagierin“ 2010 bei den Bregenzer Festspielen kontinuierlich entdeckt wird. Thomas Sanderling hat jetzt auchdie österreichische Erstaufführung gestaltet, dabei kundig und mit viel Intensität und Druck das hervorragend spielende RSO Wiendirigiert.  

Die traurige Hauptfigur Myschkin ist eine Parodie auf Christus und auf Don Quichotte. Als letzter Spross seines Geschlechtsist auch er von erbarmungswürdig trauriger Gestalt. Ihn plagt nicht nur die Epilepsie arg, sondern auch ein allzu großes und tolerantes Herz. Sein Scheitern an der verkommenen, intriganten, aber chic in heutiger Kleidung auftretendenSt. Petersburger Gesellschaftist vorprogrammiert. So, wie es ihn zwischen der Mätresse Nastassja und der Generalstochter Aglaja zerreißen wird.  

MieczysławWeinberg setzt seinen Antihelden und sein Publikum einer alpdruckartig dahinfließenden Musik aus, die mit Leitmotivik unterfüttert, einen starken Drang zur Eruption zeigt. Wobei sie in manchen lautstarken Stimmschlachten auch etwas übertreibt. Seine Freundschaft zu Dmitri Schostakowitsch kann MieczysławWeinberg jedenfalls nicht leugnen, genauso wenig wie seine Tätigkeit als Filmkomponist. Beides keine Nachteile für seine Musik. Ihr beständigerSog packt, selbst wenn man wenig Momente findet, an denen man sich anhalten könnte.  

Es hört sich fast an, als tauche man in die epileptisch geplagte Gedankenwelt Myschkins ein. Dem entspricht auch der sehr schlüssige Ansatz der präzise, dicht und stimmig gearbeiteten Inszenierung von Vasily Barkhatov.Im von Bühnenbildner Christian Schmidt auf die Drehbühne gewuchteten Eisenbahnwaggon scheint Myschkin,wie in einer Zeitkapsel gefangen, auf das Romanende zuzufahren. Der Tenor Dmitry Golovningestaltet ihn hochintensiv implodierend. In Rückblenden erfährt man Myschkins Straucheln undScheitern. Episodenhaft, surreal, ereignen sich diese Momente in der Welt außerhalb des Waggons. Als wären es Erinnerungsfetzen aus dem epileptisch gebeutelten Hirn. Ins Dunkel schießende Lichter kündigen die Szenen an, nach denen man wieder ins Waggon-Innere zurückkehrt. Dort wartet auch Nebenbuhler Ragoschin den Dmitry Cheblykov mit viril kernigem Bariton singt. Auf der dritten Bank schaut den beiden eine zwielichtige Gestalt namens Lebedjew zu. Petr Sokolovgibt diesen Intimus der Reichen und Schönen von St. Petersburg kraftvoll schmierig. Auch Nastassja und Aglaja finden in Ekaterina Sannikova und Ieva Prudnikovaitėkraftvolle Gegenspielrinnen in einer durchgängig ausgezeichneten Besetzung. „Ich bin im Delirium“ meint Myschkinkurz vor Ende von seiner Holzbank aus, während der Schnee an die Scheibenprallt. „Frierst du?“ fragt ihn Rogoschin und schließt so den Kreis für eine sehens- wie hörenswert gelungene Ausgrabung.  

 

 

© Stefan Musil