Rezensionen

Die Entführung aus dem Serail.

13. Oktober 2020, 08:30 Uhr

Gestern hatte an der Staatsoper Mozarts „Die Entführung aus dem Serail“ in der legendären Inszenierung von Hans Neuenfels Premiere. Unser Opernexperte Richard Schmitz war dabei:

Legenden haben zwei Eigenschaften. 1) Sie sind nicht wahr. 2) Sie überholen sich.

Hans Neuenfels versucht beides zu beweisen. Die Idee die fünf Gesangspartien mit Schauspielern doppelt zu besetzen, bringt in den Singspielabschnitten Bewegung und manche Pointe. Etwa wenn der erste Pedrillo zum zweiten Pedrillo sagt: „Gut, dass wir zwei sind.“ Und dann schleifen sie den betrunkenen Osmin hinaus. Auch manche „Theater auf dem Theater-Schmähs“ sorgen für Heiterkeit. Manchmal machen auch die Doppelgänger ambivalente Gefühle der Figuren deutlich, z. B. bei Belmonte, der sich nicht zwischen Tat und Gefühl entscheiden kann, oder bei Konstanze, die ihre Bereitschaft Martern zu ertragen mit der Bitte um Gnade verbindet. Man fragt sich da aber: Hat nicht Mozart diese Gefühle einem einzigen Protagonisten zugeschrieben, der sie auch selbst zum Ausdruck bringen sollte? Die Aktionen lenken davon ab, dass hier lebende Menschen geschildert werden. Ein emotionales Mitleiden des Publikums wird so ausgeschlossen. Verstärkt wird das Problem noch durch die Tatsache, dass die Schauspieler ein genuscheltes „Sprechtheaterdeutsch“sprechen, das manche Regisseure für natürlich halten. Der gesungene Text war oft besser zu verstehen als der gesprochene.

Auch die zweite Legendeneigenschaft kommt zum Tragen: Die Inszenierung ist 22 Jahre alt und das merkt man ihr an. Sie ist überholt. Wie kann man heute eine „Türkenoper“ noch so bringen wie im vorigen Jahrhundert? Sollte man nicht Ängste der Gegenwart im Sinne der Aufklärung und damit im Sinne Mozarts interpretieren? Hans Neuenfels vertraut auch nicht dem Genie Mozart und lässt nach dem Janitscharenchor-Finale Bassa Selim Eduard Mörikes „Denk es oh Seele“ rezitieren. Auf die rhetorische Frage: „Darf ich noch ein Gedicht vorlesen?“ kommt die offenbar bestellte Antwort: „Nein, das gehört nicht hierher!“ Selim Bassa – der Name des Schauspielers sei schamhaft verschwiegen – kann nicht einmal das.

Auch die musikalische Komponente der Premiere ist nicht auf Staatsopernniveau. Fast alle Sänger hat man schon besser erlebt. Ausnahme ist die Sängerin der Konstanze, Lisette Oropesa, die frenetischen Beifall ernten konnte. Nur ihre Arie „Traurigkeit ward mir zum Lose“ zerfiel dem Dirigenten Antonello Manacorda unter der Hand. Der Dirigent wurde von der Bühne zurecht mit „Herr Kapellmeister“ angesprochen. Daniel Behle als Belmonte konnte gestern sein Timbre kaum präsentieren, Regula Mühlemann zeigte manchmal, dass sie eine gute Blonde sein könnte. Michael Laurenz strengt sich als Pedrillo an. Die Rolle des Osmin verlangt einen profunden Bass. Den hat Goran Jurić leider nicht. Die Hoffnung, dass sich das Publikum ab der zweiten Vorstellung an der Musik erfreuen und die Regie vergessen kann, wird sich nicht so bald erfüllen.

Hans Neuenfels hat der Staatsoper kein Geschenk gemacht, auch wenn das deutsche Feuilleton wieder jubeln wird, weil das Wiener Publikum gebuht hat.

Wertnote: 5,5/10 Punkten.

© Wiener Staatsoper, Michael Pöhn