Rezensionen

Simon Stone: Wozzeck.

22. März 2022, 08:20 Uhr

Gestern konnte an der Wiener Staatsoper Alban Bergs „Wozzeck“ ohne Probleme über die Bühne gehen. Mit Spannung wurde das Debüt von Christian Gerhaher in der Titelrolle  erwartet. Der radio klassik Stephansdom Opernliebhaber Richard Schmitz berichtet.

Simon Stone erklärt in seinem Interview im Programmheft Wozzeck eindeutig zum Frauenmörder. Da hat er georg Büchner und seine Intention nicht verstanden. Da geht es um die Frage der Verurteilung eines geistesgestörten Täters und um die Frage, ob er zurechnungsfähig gewesen sei. Georg Büchner hat ja eine jahrzehntelange Diskussion ausgelöst, die zu unserem heutigen humanen Strafrecht geführt hat. Für Simon Stone ist er lediglich ein „sonderbarer Mensch“, der uns täglich begegnen kann. Aus diesem Missverständnis muss Christian Gerhaher einen unbeholfenen Loser gestalten. Die Szenen des Wahnsinns werden nicht herausgearbeitet. Die Demütigungen sind bis auf die Doktorstelle kaum wahrnehmbar. Vor allem die verbalen werden von den Sängern kaum pointiert. Da muss man sich aufs Mitlesen konzentrieren. Großartig ist die Drehbühne von Bob Cousins. Da gibt es herrliche Ideen, etwa wenn das Gespräch zwischen Wozzek und Andres beim Anstellen im Arbeitsamt stattfindet. Oder wenn Doktor und Hauptmann Wozzeck in einem Fitnessstudio über den Seitensprung seiner Marie informieren. Stimmiger sind die Obdachlosen in der U-Bahnstation Simmering. Weniger schlüssig scheint, dass Marie und Wozzeck trotz ihrer Armut in einer 4-Zimmer Wohnung mit Bad, Kinderzimmer, Eiskasten und Wäschetrockner hausen. Die Armut besteht offenbar darin, dass sie keinen Fernseher haben. Auch warum Wozzecks Leiche in den Bühnenhimmel emporschwebt, bleibt unbegreiflich. Die Kostüme von Alice Babidge & Fauve Ryckebusch sind unauffällig. Nur in der Kneipenszene tragen alle Tierkostüme. Warum?

Christian Gerhaher versucht mit seinen stimmlichen Mitteln und seiner Ausdrucksfähigkeit den Menschen Woyzeck zu gestalten. Das ist imponierend! Auch Anja Kampe singt die Marie mit vollem Einsatz, lässt aber kalt. Am ehesten gelingt noch die liebende Mutter. Jörg Schneider als Hauptmann flieht allzu oft ins Falsett. Dmitry Belosselsky sollte ebenfalls deutlicher akzentuieren. Sean Panikkar ist verlässlich, nicht mehr. An Max Lorenz in dieser Rolle an Karl Dönch oder Peter Klein in den anderen, darf man gar nicht denken. Die haben gewusst, dass sie einen Büchner-Text singen. Auch Philippe Jordan weiß um die Bedeutung dieser exemplarischen Oper und führt das Staatsopernorchester durch Dramatik und Lyrik.

Bemerkenswerterweise wurde der durchaus freundliche Schlussapplaus durch Senken des schwarzen Vorhangs künstlich verkürzt. Die Inszenierung hat den Woyzeck von Georg Büchner missverstanden. Hat kaum provoziert und daher nur wenige Pfiffe geerntet. Zum Nachdenken über soziale Demütigung und Femizid hat sie nicht angeregt. Die Überführung in die Gegenwart ist für mich, Richard Schmitz, leider misslungen.

Eine vergebene Chance für eine wichtige Wiener Oper.

Wertnote: 7,8/10 Punkten